Die Fahrt ins Krankenhaus
Nach der vorläufigen Diagnose Diabetes vom Kinderarzt direkt ins Krankenhaus zu fahren – das war beängstigend. Die Dringlichkeit der Behandlung, der potenziell lebensbedrohlichen Erkrankung, war uns in dem Moment sehr bewusst.
Auch unsere kleine Qualle, die noch nie im Krankenhaus war, weint, als der Kinderarzt uns das weitere Vorgehen erläutert und uns die Überweisung mitgibt. Wir wollen gute Vorbilder sein, versuchen Zuversicht und Ruhe auszustrahlen – für die kleine Qualle, aber auch für uns selbst.
Die Fahrt dorthin erscheint mir unendlich lang. Vollkommen irrationale Ängste, dass wir im Stau stecken bleiben könnten und wir es nicht rechtzeitig in die Notaufnahme schaffen, kommen über mich. Wie lange wohl der Krankenwagen braucht, um jemanden aus dem Stau zu holen? Ich versuche das Gedankenkarussell durch rationale Gedanken zu stoppen. Schließlich hätte uns der Kinderarzt sicher nicht mit dem Auto geschickt, wenn die aktuelle Situation dies nicht zulässt. Die innere Unruhe bleibt jedoch, bis wir schließlich das Auto am Ziel parken.
Aufnahme in der Notfall-Ambulanz
Die Aufnahme im Krankenhaus erfolgt über die Notfall Ambulanz, in der zum Glück nicht viel los ist. Ziemlich schnell kommt eine Krankenschwester, die das Gewicht und die Größe der kleinen Qualle ermittelt. Es wird auch direkt Blut aus dem Finger abgenommen, um die Priorisierung des Notfalls vorzunehmen. Glücklicherweise fallen die Werte den Umständen entsprechend gut aus, sodass wir nicht als akuter Notfall weiterbehandelt werden. Allerdings müssen wir jetzt weiter warten bis der Arzt zu uns kommt, aber das ist im Augenblick das geringere Übel.
Zu uns kommt schließlich ein recht junger, sympathischer Arzt. In ruhiger und zuversichtlicher Art werden wir über die aktuellen Werte und die mögliche Erkrankung aufgeklärt, auch wenn der Diabetes noch nicht sicher diagnostiziert ist. Dass niemand an dem Ausbruch der Erkrankung Schuld ist und wir es nicht hätten verhindern können, war dabei eine zentrale Aussage, an die ich mich immer noch erinnere und die mich entlastet.
Gleichzeitig wird die Anamnese erstellt: Symptomen, Vorerkrankungen in der Familie, usw. werden abgefragt und dokumentiert.
Niemand ist an dem Ausbruch der Erkrankung Schuld und wir hätten es nicht verhindern können.
Die körperlichen Abläufe beim Diabetes Typ 1 werden uns durch einfache händische Zeichnungen kind- und elterngerecht erklärt. Auf unsere vielen Fragen, erklärt uns der Arzt, dass er uns die Infos bewusst häppchenweise gibt, um Überforderung zu vermeiden. Oder vielmehr, um eine noch größere Überforderung zu vermeiden. Denn schon jetzt sind es viel zu viele Eindrücke und Infos, die wir gar nicht verarbeiten können. Der Hinweis, dass wir wahrscheinlich die kommenden zwei Wochen im Krankenhaus verbringen werden, um an Schulungen teilzunehmen und die Behandlung der kleinen Qualle weiter fortzuführen, löst noch mehr Fragen aus. Wir müssen doch eigentlich wieder arbeiten gehen? Wir kommen doch auch gerade aus dem Urlaub? Das findet sicher der Arbeitgeber nicht so gut.
Tatsächlich empfinde ich rückblickend das Vorgehen und die Informations-Häppchen ziemlich optimal. Durch die emotionale Belastung am Tag der Aufnahme kann ich mich an Vieles nur noch bruchstückhaft erinnern. Wie in Filmen oder Büchern oft beschrieben, befanden wir uns irgendwie im Auto-Modus, sodass die Infos und Eindrücke nur so an uns vorbei rauschten. Medizinische Eckdaten zu Beginn der Behandlung, wie den Glukosewert bei Aufnahme, habe ich bis heute nicht mehr auf dem Schirm. Ich habe es schlicht vergessen und konnte anfangs auch mit den Werten nicht viel anfangen.
Nachdem die Anamnese abgeschlossen ist, werden die Zugänge bei der kleinen Qualle gelegt. Dazu wird eine Krankenschwester gerufen, die die Arme fixieren soll. Bei dem Gedanken an die anstehende, offensichtlich schmerzhafte Prozedur muss ich ganz schön schlucken und bemühe mich wieder Zuversicht und Ruhe auszustrahlen. Meinem Mann geht es wohl ähnlich, der dann auf die Idee kommt die kleine Qualle mit Kinder-Videos abzulenken. Trotzdem ist unsere Anspannung für die Kleine spürbar, sie schaut mich panisch an als die Krankenschwester ihren Arm ganz fest im Griff hat und der Arzt beginnt, die Zugänge zu legen. Die Qualle kann – zum Glück – gar nicht so schnell realisieren, was da eigentlich passiert. Und dann haben wir es schon überstanden. Wohl auch durch die betäubende Wirkung der Pflaster, die vor der Anamnese aufgeklebt wurde, hat alles ohne Gegenwehr geklappt.
Die erste Nacht auf der Diabetes-Station
Mittlerweile ist es schon recht spät am Abend, die kleine Qualle wäre zuhause schon längst im Bett gewesen. Mein Mann kann uns endlich allein lassen und fährt nach Hause, um unsere Sachen zu holen. Die kleine Qualle und ich werden währenddessen von einer Schwester abgeholt, die uns auf unser Zimmer in der Diabetes Station bringt.
Aber hier war noch lange keine Nachtruhe angesagt. Unsere Zimmernachbarn, ein 6-jähriges Mädchen, ihre Mutter und die fast 1-jährige Schwester sind noch wach.
Die kleine Qualle bekommt eine Infusion mit Flüssigkeit und Insulin, zusammen mit dem Hinweis, dass in der ersten Nacht stündlich Blutzucker über den Finger gemessen wird. Wir sollten uns darauf einstellen, dass die erste Nacht sehr unruhig sein wird, es danach aber besser wird.
Und tatsächlich kam es wie angekündigt. Die erste Nacht war ein Graus. Die kleine Qualle schläft erst recht gut und sehr erschöpft ein. Wird dann aber immer wieder halb oder ganz wach, wenn der Blutzucker gemessen wird. Außerdem hat sie von dem ereignisreichen Tag Albträume, weint im Schlaf und ruft „Nein, ich will das nicht“. Alles was tagsüber auf sie einprasselte, versucht nun das kleine Gehirn zu verarbeiten. Zwischendurch piept auch noch der Infusionsständer, wenn die Infusion durchgelaufen oder ein Schlauch abgeknickt ist. Jedesmal rufe ich die Schwester, die dann schaut, was los ist. So pendle ich mindestens stündlich zwischen meinem eigenen Bett und ihrem Bett hin und her, denn Eltern ist es offiziell verboten in den Betten der Kinder zu schlafen. Mühsam schleppe ich mich von Stunde zu Stunde, bis die Krankenschwester mir sagt ich soll mich doch einfach mit ins Bett der Kleinen legen. Und ich war ihr so dankbar! So bekommen wir beide wenigstens ein bisschen Schlaf und durchs Kuscheln beruhigen wir uns gegenseitig.
Zum Glück geht diese Nacht irgendwann vorbei. Und – ebenfalls wie vorhergesagt – werden die weiteren Nächte deutlich besser.
Schwankende Blutzuckerwerte
Müde und erschöpft (ich würde fast behaupten, wie nie zuvor) starten wir in den neuen Tag. Nach dem Wecken stehen wir auf, messen Blutzucker und frühstücken.
Und wir zählen die Stunden, bis der Infusionsständer entfernt wird. Denn mit diesem sperrigen Teil ist man sehr unbeweglich. Besonders, wenn ein vierjähriges Mädchen dran hängt, dass gern mal schnell auf die Toilette muss oder auch mal vergisst, dass sie noch „verkabelt“ ist. Aber letztlich wird die Infusion am Nachmittag entfernt und wir können uns wieder freier bewegen. Was für eine Erleichterung.
Die Herausforderung in den kommenden Tagen ist, mit den schwankenden Blutzuckerwerten umzugehen. Gerade in den ersten Tagen schwanken diese noch so stark, dass die kleine Qualle bei verschiedenen Mahlzeiten nur Gemüse essen darf, da ihr Wert über 300 liegt. Es fließen die ersten Tränen, als andere Kinder vor ihren Augen Kekse oder andere Leckereien verdrücken dürfen. Ich leide mit und versuche den Ärger und die Enttäuschung so gut es geht zu begleiten. Ein Highlight in diesem Auf und Ab ist eine der Stationsschwestern, die uns nach so einer frustrierenden Mahlzeit einen zuckerfreien Wackelpudding bringt. Das macht die kleine Qualle wieder glücklich und mein Mama-Herz wird wieder etwas leichter.
Die erste Insulinpumpe
Am zweiten Krankenhaus-Tag, einem Freitag, sprechen wir das erste Mal mit der behandelnden Ärztin. Sie erklärt nochmal wie die Krankheit entsteht, dass niemand Schuld ist und dass die kleine Qualle nun nicht wirklich „krank“ ist und sich krank fühlen muss. Wir besprechen das weitere Vorgehen und dass unsere Qualle eine Insulinpumpe, die Mylife Ypsopump, bekommen wird. Und dass wir in den kommenden zwei Wochen in verschiedenen Schulungen alles Notwendige für den Alltag mit Diabetes Typ 1 erfahren. Möglichst beide Elternteile sollen sich dafür die kommenden zwei Wochen krankschreiben lassen, um den Kopf frei für die Schulungen zu haben. Ein sehr guter Ratschlag, wie sich später noch rausstellt, denn die Inhalte sind umfangreich und der Krankenhaus-Alltag zehrt zusätzlich an unseren Nerven.
Auch das Gespräch hilft uns, mit der Diagnose besser umzugehen, auch wenn ich in den ersten Tagen bei fast allen Gesprächen den Tränen nahe bin und mich ziemlich zusammenreiße. Ich weiß nicht mehr an welchem Tag und wer genau mir den Rat gab, dass auch die Eltern traurig sein dürfen und die Emotionen ruhig zulassen dürfen. Diesen Hinweis empfand ich so befreiend, gerade weil ich immer versucht habe vor der Qualle stark und zuversichtlich zu wirken, dass ich danach tatsächlich meinen Tränen immer wieder freien Lauf geben kann. Ohne schlechtes Gewissen und ohne befürchten zu müssen dafür verurteilt zu werden. Nicht immer vor der kleinen Qualle, auch mal heimlich im Badezimmer, aber ich merke trotzdem wie es mir hilft loszulassen und die Situation zu akzeptieren.
Auch die Eltern dürfen traurig sein und dürfen ihre Emotionen ruhig zulassen.
Am Nachmittag bekommt die kleine Qualle schon ihre Insulin-Pumpe und der erste Katheter wird gesetzt. Das Setzen erfolgt ganz problemlos, wir schauen zu und versuchen uns fürs Nächste mal zu merken wie es geht.
Nachdem das Setzen des Katheters und der Tag mit der Insulin-Pumpe so gut verlaufen ist, kommt am Abend die erste Ernüchterung. Beim Umziehen zum Schlafengehen sagt die kleine Qualle: „So, Mama, die Qualle (Katheter) machen wir jetzt bitte ab. Ich möchte die nicht mehr drin haben, es stört mich.“ Mein armes Mama-Herz setzt kurz aus und ich weiß nicht was ich sagen soll. Passiert das wirklich gerade uns? Muss ich meiner Tochter nun wirklich erklären, dass sie so ein „doofes Ding“ ihr Leben lang am Körper tragen muss?
Meine Antwort lautet dann: „Mein Spatz, die Qualle ist jetzt ein Teil von dir. Die können wir nicht abnehmen, du brauchst sie, um gesund zu bleiben.“ Und sie fängt herzzerreißend an zu weinen und weint und weint und weint…. Und ich weine mit. Wir beide sind einfach hilflos und traurig.
Ich kann nicht mehr
Am Wochenende passiert im Krankenhaus nicht viel. Das ist auch gut so, denn wir brauchen etwas Zeit die Diagnose zu verdauen und erstmal anzukommen. Lediglich unsere Ernährungsberaterin und die Diabetesberaterin schauen vorbei, stellen sich vor und geben uns den Stundenplan für die Schulungen in der kommende Woche. Auch der Psychologe schaut nach dem Rechten und wir vereinbaren ein Gespräch für den Anfang der Woche. Die Stunden zwischen den Mahlzeiten und dem Blutzuckermessen versuchen wir mit vielen Runden Uno oder Vorlesen zu überbrücken. Freie Spielzeiten, wie wir sie zuhause haben, gibt es im Krankenhaus nicht. Dementsprechend kurz sind die freien Zeiten für uns Eltern.
Mittlerweile sind wir fast 3 Tage im Krankenhaus, in denen ich Tag und Nacht ausschließlich die kleine Qualle begleite und mich selbst zusammenreiße, meine Bedürfnisse zurückstelle. Auch der Schlafmangel nach 2 Nächten ist nicht zu verachten, denn immer noch bin ich irgendwie in Hab-Acht-Stellung, kann mich auch nachts nicht wirklich entspannen. Mit meinem Mann bespreche ich, dass ich am Nachmittag einen kleinen Spaziergang durch den anliegenden Park mache, um meine Gedanken zu sortieren, Zeit für mich zu haben und auch um mich etwas zu bewegen.
Als ich losgehen will, bricht die Qualle jedoch in Tränen aus, wird ganz panisch und klammert sich ganz fest an mich. Erst vorsichtig, dann eindringlich erkläre ich, dass ich die Zeit dringend für mich brauche, dass auch Mama nicht mehr kann und etwas Erholung braucht. Aber es ist absolut nichts zu machen. Obwohl Papa da ist, ist scheinbar die Situation so belastend und unsicher für sie, dass ich nicht aus dem Zimmer gehen kann. Wieder weinen wir beide, halten uns gegenseitig im Arm, wieder einmal hilflos, bei mir kommt auch noch Verzweiflung dazu. Auch mein Mann ist hilflos und unterstützt einfach dadurch, dass er da ist.
Unterstützung aus der Familie
Als am darauffolgenden Tag die Schwiegereltern zu Besuch sind und die Qualle abgelenkt ist, können mein Mann und ich uns nach Draußen wagen. Endlich haben wir Zeit auch einmal gemeinsam über die Themen zu sprechen, die uns gerade bewegen. Wir überlegen auch, wie unser Alltag in Zukunft aussehen kann, welche Fragen noch offen sind. Das tut unheimlich gut und wir sind dankbar für die Unterstützung aus unserer Familie.
Auch mein Papa und meine Oma kommen uns besuchen. Das hilft vom Krankenhaus-Alltag abzulenken und die Zeit vergeht schneller. Wir puzzeln gemeinsam und gehen in die Cafeteria.
Allerdings haben wir nicht bedacht, welche Herausforderungen ein Besuch in der Cafeteria mit sich bringt, wenn das eigene Kind gerade Diabetes bekommen hat. Die riesige Eistheke am Anfang der Cafeteria sowie die Auslage mit Schoko-Croissants, Donuts und Muffins, hätten wir vielleicht besser meiden sollen. Aber hinterher ist man ja bekanntlich immer schlauer. So versuchen wir die kleine Qualle schnell an dem Süßkram vorbei zu schleusen. Das klappt allerdings nur mittelmäßig und aus Verzweiflung kauft Oma ein Spielzeug zur Ablenkung. Damit ist die Situation einigermaßen gerettet.
Mein Stresslevel allerdings ist schon wieder um Einiges gestiegen. Ich mache mir Sorgen, weil unsere kleine Qualle aktuell so viel zurückstecken muss und finde es einfach unfair, dass das Essen aktuell an Leichtigkeit und Freude verloren hat und stattdessen Verzicht und Berechnungen im Vordergrund stehen. Gleichzeitig ärgere ich mich über unsere Naivität, denn die Enttäuschung unserer Tochter beim Anblick der Leckereien, die sie nicht essen durfte, hätten wir verhindern können, indem wir den Kaffe auf der Station getrunken hätten…
Nach dem Kaffe kommen wir in eine zweite Situation, die mich bedrückt und mein Empfinden nach harmonischem Zusammensein stört. Meine Oma, die Diabetes Typ 2 hat, isst zu regelmäßigen Zeiten. Genau zu der Zeit, als wir alle zusammen in der Cafeteria sitzen, ist sie eigentlich schon spät dran mit ihrer Zwischenmahlzeit. Dass Oma isst und die kleine Qualle zuschauen muss, umgehen wir, indem mein Mann, die Qualle und ich schon hoch aufs Zimmer gehen. Oma und mein Vater bleiben unten, meine Oma isst heimlich.
Wie sieht die Zukunft aus?
Ich frage mich, wie das künftige Essen in der Familie unter den Umständen funktionieren kann? Bekommen wir alle Bedürfnisse langfristig unter einen Hut ohne, dass immer jemand zurückstecken muss?
Die für die kommenden zwei Wochen geplanten Schulungen geben mir Hoffnung, dass wir Mittel und Wege finden, um langfristig allen gerecht zu werden. Bis dahin nehme ich mir vor, für die kleine Qualle mein Bestes zu geben, damit ihre Lebensqualität möglichst ohne viele Einschränkungen erhalten bleibt.